Der russische Außenminister Sergei Lawrow zum 'Kollaps der globalen Entwicklung': "Wichtig ist, dass alle den richtigen Risikoumfang begreifen."

4. Februar 2015
von Redaktion

Auszug von Zitaten aus dem Vortrag am 09.02.2015 des russischen Außenministers Sergei Lawrow auf der 51. Münchener Sicherheitskonferenz:

"Die Ereignisse des letzten Jahres haben bestätigt, dass unsere Warnungen vor tiefen, systematischen Problemen in der Organisation der europäischen Sicherheit und in den internationalen Beziehungen im Allgemeinen völlig berechtigt gewesen waren."

"Die Konstruktion der Stabilität, die sich auf die UN-Charta und die Prinzipien von Helsinki stützt, wurde schon vor langem durch die Handlungen der USA und ihrer Verbündeten in Jugoslawien gebrochen und durch die Kriegskampagnen im Irak und in Libyen sowie durch die Nato-Osterweiterung und die Festlegung von neuen Trennlinien zerbombt. Das Projekt zum Aufbau eines „gesamteuropäischen Hauses“ ist deswegen nicht zustande gekommen, weil sich unsere westlichen Partner nicht nach der Entwicklung einer offenen Sicherheitsarchitektur unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen, sondern nach ihren Illusionen und Überzeugungen der Sieger im Kalten Krieg richteten."

"Jegliche Handlungen, die die strategische Stabilität verletzen, haben unvermeidlich Gegenschritte zur Folge."

"Wir verstehen nicht einmal, worauf die Besessenheit der Amerikaner von der Idee zur Entwicklung der globalen Raketenabwehr zurückzuführen ist. Etwa mit ihrer Entschlossenheit, militärisch allen überlegen zu sein? Oder glauben sie, politische Probleme mit High-Tech lösen zu können?"

"Dabei versuchen unsere amerikanischen Kollegen immer wieder, jede von ihnen selbst provozierte schwierige Situation Russland vorzuwerfen."

"Die von unseren westlichen Kollegen in den letzten 25 Jahren ausgeübte Politik, die das Ziel hatte, ihre Dominanz in den internationalen Angelegenheiten um jeden Preis beizubehalten und neuen geopolitischen Raum in Europa zu erobern, hat ihren Höhepunkt erreicht."

"Die strategische Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen Union hat die jüngste Belastungsprobe nicht bestanden, weil die EU der Entwicklung von beiderseitig nützlichen Kooperationsmechanismen den Konfrontationskurs vorgezogen hat. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die verpasste Gelegenheit, die von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel im Juni 2010 in Meseberg geäußerte Initiative zur Bildung eines Russland-EU-Ausschusses für Außenpolitik und Sicherheit umzusetzen, an dem sich Außenminister beteiligen würden. Russland befürwortete diese Idee, aber die EU lehnte sie ab. Ein solcher Mechanismus zum ständigen Dialog – falls er ins Leben umgesetzt worden wäre – hätte aber eine schnelle und effiziente Lösung von Problemen und eine rechtzeitige Beseitigung von gegenseitigen Besorgnissen ermöglichen können."

"Wir können kaum erklären, warum viele unsere Kollegen die universalen Prinzipien der Regelung von innenpolitischen Konflikten nicht für die Ukraine gelten lassen, die in erster Linie einen allumfassenden politischen Dialog zwischen den Konfliktseiten vorsehen. Warum forderten unsere Partner in Afghanistan, Libyen, im Irak, in Jemen, Mali und im Südsudan die dortigen Regierungen auf, mit den Oppositionellen, Rebellen und in einzelnen Fällen sogar mit Extremisten zu verhandeln, im Kontext der Ukraine-Krise aber ganz anders handeln und faktisch Kiews Gewaltoperation fördern und sogar die Anwendung von Streubomben rechtfertigen? Leider drücken unsere westlichen Kollegen ein Auge bei allem zu, was die Kiewer Behörden sagen und tun, selbst wenn es sich um das Schüren von Fremdenfeindlichkeit handelt."

"Wichtig ist, dass alle den richtigen Risikoumfang begreifen. Es ist an der Zeit, die Gewohnheit abzulegen, jedes einzelne Problem separat zu behandeln und „hinter einzelnen Bäumen keinen Wald zu sehen“. Die Situation muss komplex betrachtet werden. Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt, und zwar wegen der Wende von historischen Epochen. Die „Geburtswehen“ der neuen Weltordnung treten durch das zunehmende Konfliktpotenzial in den internationalen Beziehungen zutage. Wenn Politiker an die politische Konjunktur im Vorfeld der nächsten Wahlen in ihren Ländern denken statt die globale Situation strategisch zu betrachten, dann entsteht die Gefahr, dass sie die Prozesse in der Welt nicht mehr kontrollieren können."

"Die „Geburtswehen“ der neuen Weltordnung treten durch das zunehmende Konfliktpotenzial in den internationalen Beziehungen zutage."

"Im Jahr des 40. Jahrestags der Schlussakte von Helsinki und des 25-jährigen Halbjubiläums der Pariser Charta plädiert Russland dafür, dass diese Dokumente mit realem Inhalt gefüllt werden, dass die in diesen Dokumenten verankerten Prinzipien nicht ausgetauscht werden, dass der gesamte euroatlantische Raum stabil bleibt und gedeiht, dass dort wahre Gleichberechtigung, gegenseitige Hochachtung und Berücksichtigung von Interessen herrschen."

"Wir sollten nichts Neues erfinden. Wir müssen uns nur treffen und die erwähnten Prinzipien bestätigen und dann das erfüllen, was wir vor ein paar Jahrzehnten vereinbart haben."

"Die Wiedervereinigung Deutschlands vollzog sich ohne Referendum ..."


Den Originaltext des ganzen Vortrags finden Sie als Faximile hier:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Herr Wolfgang Ischinger hat auf die Tagesordnung das Thema „Kollaps der globalen Entwicklung“ gesetzt. Ich muss zustimmen, dass sich die Situation nicht nach einem optimistischen Szenario entwickelt. Ich kann aber unmöglich die Argumente mancher von unseren Kollegen akzeptieren, dass es zu einem raschen Zusammenbruch der Weltordnung gekommen wäre, die seit Jahrzehnten konstant blieb.

Im Gegenteil: Die Ereignisse des letzten Jahres haben bestätigt, dass unsere Warnungen vor tiefen, systematischen Problemen in der Organisation der europäischen Sicherheit und in den internationalen Beziehungen im Allgemeinen völlig berechtigt gewesen waren. Ich muss Sie an die Rede erinnern, die der russische Präsident Wladimir Putin hier vor acht Jahren hielt.

Die Konstruktion der Stabilität, die sich auf die UN-Charta und die Prinzipien von Helsinki stützt, wurde schon vor langem durch die Handlungen der USA und ihrer Verbündeten in Jugoslawien gebrochen und durch die Kriegskampagnen im Irak und in Libyen sowie durch die Nato-Osterweiterung und die Festlegung von neuen Trennlinien zerbombt. Das Projekt zum Aufbau eines „gesamteuropäischen Hauses“ ist deswegen nicht zustande gekommen, weil sich unsere westlichen Partner nicht nach der Entwicklung einer offenen Sicherheitsarchitektur unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen, sondern nach ihren Illusionen und Überzeugungen der Sieger im Kalten Krieg richteten. Die im Rahmen der OSZE und des Russland-Nato-Rats feierlich übernommenen Verpflichtungen, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu festigen, sind auf dem Papier geblieben – in Wahrheit sind sie ignoriert geblieben.

Das Problem Raketenabwehr ist ein klarer Beweis für den starken destruktiven Einfluss von einseitigen Schritten beim Militäraufbau, die den legitimen Interessen anderer Staaten widersprechen. Unsere Initiativen zur Kooperation im Raketenabwehrbereich wurden abgelehnt. Dafür wurden wir aufgerufen, uns an der Entwicklung der US-amerikanischen globalen Raketenabwehr zu beteiligen, die – das haben wir öfter betont und mit Fakten belegt – reale Risiken für die nuklearen Abschreckungskräfte Russlands bedeutet.

Jegliche Handlungen, die die strategische Stabilität verletzen, haben unvermeidlich Gegenschritte zur Folge. Dadurch wird dem gesamten System der internationalen Verträge im Bereich der Rüstungskontrolle langfristig ein Schaden zugefügt, deren Lebensfähigkeit unmittelbar vom Raketenabwehr-Faktor abhängt.

Wir verstehen nicht einmal, worauf die Besessenheit der Amerikaner von der Idee zur Entwicklung der globalen Raketenabwehr zurückzuführen ist. Etwa mit ihrer Entschlossenheit, militärisch allen überlegen zu sein? Oder glauben sie, politische Probleme mit High-Tech lösen zu können? Egal wie, aber die Raketengefahren sind und bleiben akut, doch im euroatlantischen Raum ist jetzt ein neuer Reizfaktor entstanden, den wir alle noch lange nicht loswerden können. Wir sind allerdings bereit dazu. Ein anderer destabilisierender Faktor wurde die Weigerung der USA und der anderen Nato-Mitglieder, ein Abkommen über die Anpassung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa zu ratifizieren, die dadurch diesen Vertrag nahezu begraben haben.

Dabei versuchen unsere amerikanischen Kollegen immer wieder, jede von ihnen selbst provozierte schwierige Situation Russland vorzuwerfen. Lassen Sie mich die in letzter Zeit intensiver werdende Debatte über den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) als Beispiel nennen. Experten kennen die Aktivitäten der USA, die dem Geist und Wortlaut dieses Dokuments widersprechen. So hat Washington im Kontext des Aufbaus der globalen Raketenabwehr ein umfassendes Programm zum Bau von Zielscheiben-Raketen begonnen, deren technische Daten denen von bodengestützten Raketen identisch bzw. ähnlich sind, die im Sinne des INF-Vertrags verboten sind. Die im Vertrag verankerte Definition der bodengestützten Flügelraketen mittlerer Reichweite trifft auf die in den USA sehr verbreiteten Kampfdrohnen zu. Der Vertrag untersagt unmittelbar Abfangraketen-Startanlagen, die demnächst in Rumänien und Polen aufgestellt werden, denn sie können auch für Starts von Flügelraketen mittlerer Reichweite eingesetzt werden.

Unsere amerikanischen Kollegen wollen diese Fakten nicht anerkennen und behaupten, gewisse „begründete“ Vorwürfe gegen Russland im Kontext des INF-Vertrags zu haben, wollen sich aber nicht konkret dazu äußern.

Angesichts dieser und vieler anderer Faktoren ist es aus unserer Sicht ein gefährlicher Selbstbetrug, die aktuelle Krise nur auf die Ereignisse des letzten Jahres zurückzuführen.

Die von unseren westlichen Kollegen in den letzten 25 Jahren ausgeübte Politik, die das Ziel hatte, ihre Dominanz in den internationalen Angelegenheiten um jeden Preis beizubehalten und neuen geopolitischen Raum in Europa zu erobern, hat ihren Höhepunkt erreicht. Sie verlangten von den GUS-Ländern, unseren nächsten Nachbarn (die mit uns seit Jahrhunderten wirtschaftlich, humanitär, kulturell und sogar familiär verbunden sind), sich zu entscheiden, so dass sie „entweder mit dem Westen oder gegen den Westen“ sind. Das ist aber die Logik eines Nullsummenspiels, die eigentlich der Vergangenheit angehören sollte.

Die strategische Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen Union hat die jüngste Belastungsprobe nicht bestanden, weil die EU der Entwicklung von beiderseitig nützlichen Kooperationsmechanismen den Konfrontationskurs vorgezogen hat. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die verpasste Gelegenheit, die von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel im Juni 2010 in Meseberg geäußerte Initiative zur Bildung eines Russland-EU-Ausschusses für Außenpolitik und Sicherheit umzusetzen, an dem sich Außenminister beteiligen würden. Russland befürwortete diese Idee, aber die EU lehnte sie ab. Ein solcher Mechanismus zum ständigen Dialog – falls er ins Leben umgesetzt worden wäre – hätte aber eine schnelle und effiziente Lösung von Problemen und eine rechtzeitige Beseitigung von gegenseitigen Besorgnissen ermöglichen können.

Was unmittelbar die Ukraine angeht, so haben unsere amerikanischen Kollegen und auch die Europäische Union in jeder Krisenphase Schritte unternommen, die eine weitere Eskalation provozierten. Dies war der Fall, als die EU die Folgen des Inkrafttretens des Wirtschaftsblocks des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine unter Beteiligung Russlands nicht besprechen wollte. Unmittelbar danach wurde der Staatsstreich unterstützt, genauso wie zuvor die Anti-Regierungs-Krawalle unterstützt worden waren. Dies war auch der Fall, als unsere westlichen Partner immer wieder die Kiewer Behörden unterstützten, die statt des versprochenen gesamtnationalen Dialogs eine umfassende Kriegskampagne auslösten, indem sie ihre Mitbürger, die mit dem verfassungswidrigen Machtwechsel und den Ausschreitungen der Ultranationalisten nicht einverstanden waren, zu „Terroristen“ abstempelten.

Wir können kaum erklären, warum viele unsere Kollegen die universalen Prinzipien der Regelung von innenpolitischen Konflikten nicht für die Ukraine gelten lassen, die in erster Linie einen allumfassenden politischen Dialog zwischen den Konfliktseiten vorsehen. Warum forderten unsere Partner in Afghanistan, Libyen, im Irak, in Jemen, Mali und im Südsudan die dortigen Regierungen auf, mit den Oppositionellen, Rebellen und in einzelnen Fällen sogar mit Extremisten zu verhandeln, im Kontext der Ukraine-Krise aber ganz anders handeln und faktisch Kiews Gewaltoperation fördern und sogar die Anwendung von Streubomben rechtfertigen?

Leider drücken unsere westlichen Kollegen ein Auge bei allem zu, was die Kiewer Behörden sagen und tun, selbst wenn es sich um das Schüren von Fremdenfeindlichkeit handelt. Ich darf wohl zitieren: „Der ukrainische Sozial-Nationalismus betrachtet die ukrainische Nation als eine Blut- und Rassen-Einheit“. Und weiter: „Die Frage von der totalen Ukrainisierung im künftigen sozial-nationalistischen Staat wird innerhalb von drei bis sechs Monaten dank einer harten und ausbalancierte Staatspolitik gelöst.“ Das sagte der Abgeordnete der ukrainischen Obersten Rada, Andrej Bilezki, Kommandeur des „Asow“-Regiments, das sich an den Kriegshandlungen im Donezbecken aktiv beteiligt. Für eine „ethnisch saubere“ Ukraine, für die Vernichtung von Russen und Juden sprachen sich viele Personen aus, die in der Ukraine an die Macht gekommen sind, darunter Dmitri Jarosch, Oleg Tjagnibok und Oleg Ljaschko, der Führer der in der Obersten Rada präsenten Radikalen-Partei. Diese Aussagen haben in den westlichen Hauptstädten keine Reaktion hervorgerufen. Ich denke nicht, dass Europa heutzutage es sich leisten kann, die Gefahr der Weiterverbreitung des Nazi-Virus zu ignorieren.

Die Ukraine-Krise kann nicht mit Militärgewalt geregelt werden. Das wurde im vorigen Sommer bestätigt, als angesichts der Situation auf den Schlachtfeldern die Minsker Vereinbarungen unterzeichnet werden mussten. Das wird auch jetzt bestätigt, wenn ein neuer Versuch zum Sieg auf dem Schlachtfeld gescheitert ist. Dennoch werden in einigen westlichen Ländern die Aufrufe zunehmend lauter, die Kiewer Behörden noch intensiver zu unterstützen, die Ukraine als Gesellschaft und als Staat weiterhin zu militarisieren, dieses Land mit tödlichen Waffen „vollzustopfen“ und in die Nato aufzunehmen. Erfreulich ist allerdings, dass in Europa die Oppositionskräfte immer stärker werden, die gegen diese Pläne auftreten, die die Tragödie des ukrainischen Volkes noch schlimmer machen könnten.

Russland wird sich auch weiterhin um die Förderung des Friedens bemühen. Wir treten konsequent für die Einstellung der Kriegshandlungen, für den Abzug von schweren Rüstungen und für direkte Verhandlungen zwischen Kiew auf der einen Seite und Donezk und Lugansk auf der anderen Seite ein, die der Suche nach konkreten Wegen zur Wiederherstellung eines gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Raums im Rahmen der einheitlichen Ukraine gewidmet wären. Diesem Thema waren die zahlreichen Initiativen Wladimir Putins im Rahmen des “Normandie-Formats” gewidmet, dank deren der Minsker Prozess in die Wege geleitet wurde. Auch unsere weiteren Bemühungen um die Entwicklung des Minsker Prozesses, insbesondere die gestrigen Verhandlungen der Staats- bzw. Regierungsoberhäupter Russlands, Deutschlands und Frankreichs im Kreml, verfolgten dieses Ziel. Wie Sie wissen, gehen diese Verhandlungen weiter. Unseres Erachtens gibt es gute Möglichkeiten, Fortschritte zu erreichen und Empfehlungen zu vereinbaren, dank deren die Seiten die verhärteten Fronten in dem Konflikt aufweichen könnten.

Wichtig ist, dass alle den richtigen Risikoumfang begreifen. Es ist an der Zeit, die Gewohnheit abzulegen, jedes einzelne Problem separat zu behandeln und „hinter einzelnen Bäumen keinen Wald zu sehen“. Die Situation muss komplex betrachtet werden. Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt, und zwar wegen der Wende von historischen Epochen. Die „Geburtswehen“ der neuen Weltordnung treten durch das zunehmende Konfliktpotenzial in den internationalen Beziehungen zutage. Wenn Politiker an die politische Konjunktur im Vorfeld der nächsten Wahlen in ihren Ländern denken statt die globale Situation strategisch zu betrachten, dann entsteht die Gefahr, dass sie die Prozesse in der Welt nicht mehr kontrollieren können.

Ich muss an die erste Phase des Syrien-Konflikts erinnern: Damals behaupteten viele im Westen, man sollte die Gefahr des Extremismus und Terrorismus nicht überspitzen, denn die Situation würde sich von selbst beruhigen, und die Hauptsache wäre, einen Machtwechsel in Damaskus zu erreichen. Jetzt sehen wir, was daraus geworden ist: Viele Gebiete im Nahen Osten, in Afrika, im afghanisch-pakistanischen Raum sind außer der Kontrolle der legitimen Behörden geraten. Auch andere Regionen, darunter Europa, sind vom Extremismus betroffen. Das Risiko der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen wird immer größer. Die Situation im Nahen Osten und in anderen Konfliktgebieten ist sehr explosiv. Eine angemessene Strategie zur Eindämmung dieser Herausforderungen wurde immer noch nicht ausgearbeitet. Ich will hoffen, dass die heutigen und morgigen Debatten in München uns helfen werden, zu verstehen, inwieweit erfolgreich wir bei der Suche nach gemeinsamen Antworten auf die für uns alle gemeinsamen Gefahren sind. Um mit einem Erfolg rechnen zu dürfen, müssen wir gleichberechtigt diskutieren und auf gegenseitige Ultimaten und Drohungen verzichten.

Wir sind nach wie vor überzeugt, dass sich der gesamte Komplex von Problemen viel leichter lösen ließe, wenn die Großmächte sind auf strategische Orientierungspunkte in ihren gegenseitigen Beziehungen einigen würden. Vor kurzem hat die verehrte Secrétaire perpétuel der Académie française, Hélène Carrère d’Encausse, gesagt, dass es „ein richtiges Europa ohne Russland nicht geben kann“. Wir möchten gerne wissen, ob unsere Partner diese Meinung teilen oder weiterhin den Weg zur Spaltung des gesamteuropäischen Raums und zur Gegenüberstellung seiner einzelnen Fragmente gehen wollen. Wollen sie die Sicherheitsarchitektur mit Russland, ohne Russland oder gegen Russland entwickeln? Natürlich müssen auch unsere amerikanischen Partner diese Frage beantworten.

Wir plädieren schon seit langem für die Einrichtung eines einheitlichen wirtschaftlichen und humanitären Raums zwischen Lissabon und Wladiwostok, der sich auf die Prinzipien der gleichen und unteilbaren Sicherheit stützen und sowohl die Mitglieder von Integrationsbündnissen als auch die daran nicht beteiligten Länder umfassen würde. Besonders wichtig ist die Entwicklung von zuverlässigen Kooperationsmechanismen zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der EU. Wir begrüßen die sich abzeichnende Unterstützung dieser Idee durch die verantwortungsvollen europäischen Staats- und Regierungsoberhäupter.

Im Jahr des 40. Jahrestags der Schlussakte von Helsinki und des 25-jährigen Halbjubiläums der Pariser Charta plädiert Russland dafür, dass diese Dokumente mit realem Inhalt gefüllt werden, dass die in diesen Dokumenten verankerten Prinzipien nicht ausgetauscht werden, dass der gesamte euroatlantische Raum stabil bleibt und gedeiht, dass dort wahre Gleichberechtigung, gegenseitige Hochachtung und Berücksichtigung von Interessen herrschen. Wir wünschen der im Rahmen der OSZE gebildeten „Gruppe der Weisen“, die einen Konsens erreichen und wichtige Empfehlungen formulieren muss, viel Erfolg.

Wenn wir den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs begehen, müssen wir an die Verantwortung denken, die wir alle gemeinsam tragen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Frage: Ich verstehe alle von Ihnen erwähnten Probleme in den Beziehungen mit den USA: Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, Raketenabwehr. Neben der Tatsache, dass Russland laut dem START-Vertrag Drohnen mit Flügelraketen gleichsetzt, möchte ich noch darauf hinweisen, dass US-Präsident Barack Obama die europäische Raketenabwehr wesentlich kompakter gemacht hat. Wenn Russland Probleme mit den USA hat, warum muss denn die Ukraine dafür zahlen? Ich spreche von der Eroberung der Krim und den Versuchen zur Spaltung der Ukraine. Was haben denn die armen Ukrainer getan, dass Sie sie jetzt für die Sünden der Amerikaner bestraft werden?

Sergej Lawrow: Ich verstehe schon, dass Sie eine perverse Einsicht haben. Sie sollten nicht Äpfel mit Orangen verwechseln. Jetzt sagt man: „Wir werden die Ukraine-Krise regeln, und dann funktioniert das Sicherheits- und Stabilitätssystem von selbst.“ Im Gegenteil: Die Krise muss geregelt werden – das ist die oberste Priorität. Wir können aber nicht übersehen, dass alle nach dem Kalten Krieg getroffenen Vereinbarungen ignoriert werden. Wir wollen uns an niemandem rächen geschweige denn auf Kosten Dritter. Wir wollen normale Beziehungen mit den USA unterhalten. Wir waren nicht diejenigen, die die zuvor entfalteten Mechanismen zerstört haben, die in den letzten Jahren geschaffen worden waren und dank deren unsere täglichen Kontakte und die Beseitigung von beiderseitigen Besorgnissen möglich waren. Wir waren nicht diejenigen, die aus dem Raketenabwehr-Vertrag ausgetreten sind. Wir weigerten uns nicht, den angepassten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa zu ratifizieren. Jetzt müssen wir Stück für Stück das zusammentragen, was uns noch übrig geblieben ist, und durch die Bestätigung der Prinzipien von Helsinki über ein neues Sicherheitssystem verhandeln, das allen, darunter der Ukraine, Georgien und Moldawien, passen würde – allen, die von unseren amerikanischen Kollegen vor die Wahl gestellt wurden: dem Westen zu folgen und das Zusammenwirken mit Russland abzubauen. Das ist nun einmal ein Fakt.

Ich weiß, dass US-Botschafter in der ganzen Welt solche Hinweise erhalten. Ich sehe hier Alexander Vershbow, der unlängst in einem Interview von der Nato als „dem freundlichsten Block weltweit“ und „der Hoffnung auf eine europäischen Stabilität und Sicherheit“ gesprochen hat. Wer hat denn aber Jugoslawien, Libyen mit Bomben beworfen, ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats eingeholt zu haben? Die „Erfolge“, die solche einseitigen Aktionen gebracht haben, sehen wir jetzt im Nahen Osten. Wir wollen, dass die Nato nicht als musterhafte Organisation dargestellt wird, wie man das versucht, dafür aber ein Teilnehmer eines gleichberechtigten Dialogs über die Stabilitätsförderung ist. Alle wollen, dass wir die untergeordnete Position aller anderen Länder gegenüber den USA und der Nato anerkennen. Ich denke aber nicht, dass dies den Interessen der Ordnung und Stabilität in der Welt entsprechen würde.

Was den Beginn der Ereignisse in der Ukraine angeht, so hat US-Präsident Barack Obama unlängst offen davon gesprochen, dass die USA als eine Art Broker beim Machtwechsel bzw. „Machtübergang“ in der Ukraine gewesen waren. Das ist eine bescheidene Formulierung, aber wir wissen alle sehr gut, wie das passiert ist, wer und wie die Personalien per Telefon besprach, die in der neuen ukrainischen Regierung präsent sein sollten, und vieles andere. Wir wissen, was jetzt geschieht und wer jeden Tag die Ereignisse auf dem „Maidan“ überwachte. Dort gab es keine Militärspezialisten und Experten von uns.

Wir wollen sehr, dass sich das ukrainische Volk wiedervereinigt, aber das müsste auf Basis eines realen gesamtnationalen Dialogs geschehen. Aber wenn die ukrainischen Behörden beschließen, die Geburtstage von Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch zu nationalen Feiertagen zu erklären, dann stellt sich die Frage: Wie könnte man diese Feiertage in der Ostukraine begehen?! Das ist unmöglich. Und im Westen des Landes will man nicht mehr den 9. Mai feiern. Ich will nicht einmal über andere spezifische Besonderheiten der ukrainischen Gesellschaft sprechen, aber auch für das, was ich eben gesagt habe, sind gewisse politische Vereinbarungen nötig.

Hier wird das gerne verschwiegen, aber in der Ukraine läuft derzeit eine Mobilmachung, wobei allerdings große Schwierigkeiten entstehen. Vertreter der ungarischen und rumänischen Minderheit spüren eine „positive“ Diskriminierung, denn sie werden wesentlich öfter zum Wehrdienst einberufen als ethnische Ukrainer. Wollen wir vielleicht darüber reden? Oder vielleicht darüber, dass in der Ukraine nicht nur Ukrainer und Russen leben, sondern auch Menschen anderer Nationalitäten, die durch des Schicksals Fügung in diesem Land leben und dort weiter leben wollen? Warum sind sie nicht gleichberechtigt? Warum werden ihre Interessen nicht berücksichtigt? Während der jüngsten Wahl der Obersten Rada hatte die ungarische Minderheit gebeten, die Wahllokale so zu verteilen, dass mindestens ein ethnischer Ungar in die Rada einzieht. Die Wahllokale wurden aber so verteilt, dass kein Ungar ins Parlament gewählt wurde. Das alles sind Beweise dafür, dass es in diesem Zusammenhang etwas zu besprechen gibt. Es gibt Probleme, die wirklich bestehen und den ukrainischen Staat bei der Überwindung dieser äußerst schwierigen Krise behindern. Im Westen werden sie jedoch verschwiegen. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, nachdem das ukrainische Lustrationsgesetz verabschiedet worden war. Einige von diesen Menschen sind heute hier. Unter vier Augen gaben sie gerne zu, dass dies ein furchtbares Gesetz ist, das sofort außer Kraft gesetzt werden sollte. Ich fragte, warum sie das nicht in der Öffentlichkeit sagen, und mir wurde geantwortet, dass man die ukrainische Macht unterstützen und nicht kritisieren sollte. Wenn das so ist, dann fehlen mir einfach die Worte.

Ich hoffe sehr, dass die gestrigen Bemühungen der Präsidenten Frankreichs und Russlands sowie der deutschen Kanzlerin Erfolg haben werden, den die Konfliktseiten unterstützen, so dass die Situation wirklich beruhigt werden kann und der so notwendige gesamtnationale Dialog über Wege zur Lösung von allen möglichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen beginnt.

Frage: Meine Frage bezieht sich auf die Ergebnisse der gestrigen Verhandlungen in Moskau und der vorgestrigen in Kiew: Die gute Nachricht ist, dass die Minsker Vereinbarungen nach wie vor auf der Tagesordnung stehen. Die schlechte Nachricht ist, dass nicht alle Seiten, die diese Vereinbarungen unterzeichnet haben, sie erfüllen. Ich spreche von den Vertretern der Volksrepubliken Donezk und Lugansk, die Offensivhandlungen führen, aus Artilleriewaffen schießen usw. Die Russische Föderation hat die Minsker Vereinbarungen auch unterzeichnet. Jetzt wird versucht, die Trennlinie zu verschieben. Es wird kein Druck auf das Volksheer ausgeübt, obwohl Russland zugegeben hat, dass es einen solchen Druck ausüben kann. Wollen Sie wirklich die Minsker Vereinbarungen umsetzen? Wie können Sie als Außenminister der Russischen Föderation garantieren, dass alle zwölf Punkte der Minsker Vereinbarungen erfüllt werden und dass der Druck auf die Volksrepubliken Donezk und Lugansk ausgeübt wird?

Sergej Lawrow: Sobald die wichtigsten Teilnehmer des Minsker Prozesses, nämlich die ukrainischen Behörden und die Vertreter der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk sich über alle praktischen Aspekte der Umsetzung jedes der Minsker Punkte geeinigt haben, wird Russland – davon bin ich überzeugt – eine der Seiten sein, die solche Garantien abgeben können, egal ob in der OSZE oder im UN-Sicherheitsrat. Ich bin überzeugt, dass auch Deutschland, Frankreich und andere Länder bereit wären, solche Garantien abzugeben. Es kann allerdings nur das garantiert werden, was bereits getan und erreicht worden ist. Es muss direkt verhandelt werden. Man sollte aber verstehen, dass diese Menschen alles akzeptieren werden, was ihnen aufgezwungen wird. Sie leben auf ihrem Boden und kämpfen dafür. Wenn jemand behauptet, sie könnten nicht aus eigener Kraft auf dem Schlachtfeld siegen, dann sage ich: Das ist eine gerechte Sache für diese Menschen. Dabei verstehen ukrainische Soldaten überhaupt nicht, warum sie an diesem Krieg teilnehmen sollten. Ich sage nochmals: Verhandelt werden muss direkt.

Die US-Administration wurde einst dafür kritisiert, dass sie intensive Kontakte mit den Taliban unter Vermittlung Dohas (Katar) unterhielt. Vertreter der Administration fragten, warum man sie eigentlich kritisiert: „Ja, sie sind Feinde, aber mit Freunden verhandelt man nicht. Man verhandelt mit Feinden.“ Falls die ukrainischen Behörden ihre eigenen Mitbürger für Feinde halten, dann müssen sie sowieso mit ihnen verhandeln. Unsere ukrainischen Kollegen sollten nicht darauf hoffen, dass die rücksichtslose Unterstützung, die sie von außerhalb genießen, alle ihre Probleme lösen wird. Eine solche Unterstützung, der keine kritischen Analysen der Situation zugrunde liegen, verdreht einigen Personen den Kopf. So erging es Michail Saakaschwili im Jahr 2008. Alle wissen ja, was daraus geworden ist.

Frage: Ich bin Mitglied der Organisation „Europäisches Leader-Netzwerk“, der Vertreter Russlands, der USA und europäischer Länder angehören. Vor kurzem haben wir eine Studie über Luftraumverletzungen verfasst. Nehmen wir einmal an, dass unsere wichtigste Priorität der Abbau der Spannungen im Osten der Ukraine und das Voranbringen eines Waffenstillstandsabkommens ist. Denken Sie nicht, dass die nächste Priorität ein Versuch sein sollte, eine Vereinbarung zu treffen oder wenigstens zu verhindern, dass das gegenseitige Vertrauen endgültig verlorengeht, und ein Schema zu konzipieren, das Russland, der Nato, Europa und den USA gestatten würde, unnötige potenziell gefährliche militärische Berührungen zu vermeiden? In dieser Situation brauchen wir so etwas nicht. Warum befasst man sich nicht mit einem solchen Schema, das uns die Sicherheit geben würde, dass unsere Flugzeuge, Kriegsschiffe und Objekte sich nicht mehr so nahe kommen, wie das in den letzten ein paar Wochen der Fall war?

Vor wenigen Wochen hob im Flughafen Kopenhagen ein Flugzeug ab, das nach Warschau unterwegs war. Es wäre beinahe mit einem russischen Militärflugzeug kollidiert, das sich im internationalen Luftraum mit ausgeschalteten Transpondern aufhielt. Kein einziges Nato-Land hätte so etwas gegenüber Russland gemacht. Warum fliegen russische Kampfflugzeuge durch den europäischen Luftraum mit ausgeschalteten Transpondern, so dass sie so gut wie unsichtbar sind? Das ist, als würde ein großer schwarzer Lastwagen nachts ohne Lichter durch die Stadt fahren. Warum passiert so etwas? Wann werden diese Handlungen eingestellt?

Sergej Lawrow: Wir hatten ein umfassendes Netz von bilateralen Mechanismen zwischen Russland und der Nato im Russland-Nato-Rat, wo unsere Militärs jeden Tag kontaktierten. Es gab gesonderte Expertentreffen und viele gemeinsame Projekte, unter anderem zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Entwicklung des Sprengstoffdetektors STANDEX.

Es gab auch ein Projekt zur Personalausbildung für den afghanischen Sicherheitsdienst, zur Versorgung dieses Dienstes mit Hubschraubern. Es gab auch die Common airspace initiative – die Gemeinsame Initiative zur Sicherheitsförderung im Luftraum. Jetzt wurden sie alle auf Eis gelegt, obwohl wir im Rahmen dieser Mechanismen uns darüber hätten durchaus einigen können, wie wir gefährliche militärische Aktivitäten vermeiden könnten.

Was konkret das Thema Aktivitäten der Luftstreitkräfte angeht, so verfügen wir über entsprechende Statistiken, denen zufolge die Nato viel, viel intensiver vorgeht als Russland. Ich denke, Ende Januar hat sich unser Ständiger Vertreter bei der Nato, Alexander Gruschko, mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg getroffen und ihm in diesem Zusammenhang einen „fact-sheet“ mit unseren Statistiken überreicht. Wir sind offen, wenn es um die Wiederbelebung der Kooperationsmechanismen geht, aber derzeit liegen sie alle auf Eis. Es ist nur der Rat der Ständigen Vertreter übrig geblieben, aber seine Treffen finden nicht besonders häufig statt. Alles andere bleibt geschlossen.

Jetzt entstehen sogar neue Probleme. Unsere Nato-Kollegen scheinen die faktische Anwesenheit der russischen Diplomaten in der russischen Vertretung bei der Nato reduzieren zu wollen. Unser Zugang zum Hauptquartier, wo wir unseren eigenen Raum haben, kann begrenzt werden. Das wird wahrscheinlich dazu führen, dass ständig neue „dunkle Flecken“ in unseren Beziehungen entstehen, und alles andere als hilfreich bei der Klärung unserer gegenseitigen Absichten sein.

Frage: Sie haben gesagt, dass Sie die gemeinsamen Prinzipien der europäischen Sicherheit bestimmen wollen. Ich fürchte aber, dass die EU-Prinzipien sich auf Selbstbestimmung stützen und den russischen Prinzipien nicht entsprechen. Sie glauben an Einflussräume. James Cannon hat vor ungefähr 60 Jahren gesagt, dass viele Nachbarn Russlands sich entscheiden müssen, ob sie seine Feinde oder Satelliten sind. Welche gemeinsamen Regeln sind denn möglich, wenn man diese Inkompatibilität unserer Werte bedenkt? Vor fünf Jahren hat Dmitri Medwedew die Konzeption einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur formuliert. Das hat aber nicht funktioniert, denn Russland beeinflusst stark seine Nachbarn. Sehen Sie einen Ausweg aus dieser Situation? Ist ein Kompromiss zwischen den russischen und europäischen Herangehensweisen zur Sicherheitsförderung in Europa möglich?

Sergej Lawrow: Sie scheinen nicht besonders aufmerksam zugehört zu haben. Es handelte sich nicht um die Entwicklung von neuen Prinzipien. Ich sagte, dass die in der Schlussakte von Helsinki, in der Pariser Charta, in den Dokumenten des Russland-Nato-Rats verankerten Prinzipien neu bestätigt werden müssten, aber diesmal fair. Und noch wichtiger ist, dass sie juristisch verpflichtend sind.

In dem von Ihnen erwähnten Vertrag über die europäische Sicherheit wurde nichts Neues vorgeschlagen. Dort wurde lediglich vorgeschlagen, das Prinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit, das im Rahmen der OSZE und des Russland-Nato-Rats ausgerufen wurde, in einer juristisch verpflichtenden Form zu verankern. Unsere Nato-Kollegen sagten aber, dass juristische Garantien der Sicherheit der Nato vorbehalten werden sollten, damit alle sich dieser Organisation anschließen wollen und damit diese Sichtweise immer größer und tiefer wird. Warum sollte man aber darauf verzichten, dass die Sicherheit gleich ist? Das wurde verkündet, und das ist die Verpflichtung, die die Präsidenten und Ministerpräsidenten der euroatlantischen und der OSZE-Länder übernommen haben. Damit will die Nato offenbar, dass die Sicherheit ungleich ist, dass jemand „gleicher ist als die anderen“, wie George Orwell schrieb.

Sie haben eben James Cannon zitiert. Ich kann eine andere Aussage von ihm zitieren: Der Kalte Krieg war ein kolossaler Fehler, den der Westen begangen hat.

Wir sollten nichts Neues erfinden. Wir müssen uns nur treffen und die erwähnten Prinzipien bestätigen und dann das erfüllen, was wir vor ein paar Jahrzehnten vereinbart haben.

Frage: Ich stimme Ihnen zu, dass in den letzten 25 Jahren nicht alles perfekt war. Wir hatten viele Widersprüche mit Russland. Wir standen kurz davor, das Partnerschaftsabkommen zu unterzeichnen, das auf die Modernisierung der russischen Wirtschaft gerichtet ist – das ist nur ein Beispiel. Ich denke, dass wir ein Schema in Europa geschaffen haben, das die territoriale Integrität und die Souveränität der Staaten sichert. Diese beiden Prinzipien wurden verletzt und wir müssen zugeben, dass Russland jetzt eine der Konfliktseiten in der Ukraine ist. Wir können diese Krise nur dann überwinden, wenn wir die innenpolitische Situation in diesem Lande richtig analysieren. Ihre Beschreibung der Situation in der Ukraine ist inakzeptabel.

Es gab eine Vereinbarung mit Viktor Janukowitsch, die von der Mehrheit des Parlaments gebilligt wurde. Es gab Wahlen, bei denen 80 Prozent für den europäischen Kurs des Landes gestimmt. Nationalisten, Kommunisten und Faschisten kamen auf zwei bis drei Prozent der Stimmen. So sieht eine reale Situation aus, von der man ausgehen soll. Im 21. Jahrhundert soll es keine Anhaltspunkte zur Verletzung der Prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität geben, die in Helsinki festgelegt wurden. Das Prinzip der Souveränität besteht darin, dass jedes Volk, darunter die Ukraine, das Recht darauf hat, selbstständig zu bestimmen, mit welchem Land Handelsabkommen geschlossen werden. Falls ein Nachbarstaat versucht, diese Wahl zu kontrollieren, handelt es sich um eine Rückkehr zur früheren Politik und eine Verletzung des Souveränitätsprinzips, was in der letzten Zeit in der Ukraine zu erkennen ist.

Sergej Lawrow: Ich bin davon überzeugt, dass Ihre Rede ein guter Sujet im Fernsehen sein würde.

Es gibt internationale Regeln, die tatsächlich manchmal unterschiedlich gedeutet werden, verschiedene Handlungen werden entgegensetzt interpretiert. Auf der Krim geschah das, was шь UN-Statut festgeschrieben ist – Selbstbestimmung. In diesem Dokument sind einige Prinzipien festgeschrieben, wobei das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung im Vordergrund steht. Lesen Sie das Statut! Die territoriale Integrität, die Souveränität müssen respektiert werden. Die UN-Vollversammlung verabschiedete eine Deklaration, in der das Verhältnis zwischen den grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts erklärt wurde. Darin wurde bestätigt, dass die Souveränität und die territoriale Integrität unantastbar sind, und die Länder, die beanspruchen, dass ihre Souveränität respektiert wird, das Recht der in diesen Ländern lebenden Nationen respektieren sollen und die Verhinderung des Rechts auf Selbstbestimmung durch harte Gewalt nicht zulassen dürfen.

Ihnen zufolge wurde in Kiew lediglich das Abkommen umgesetzt, das von Viktor Janukowitsch unterzeichnet wurde, weil es dort die Wahl gab. Erstens, am nächsten Tag nach der Unterzeichnung dieses Abkommens, unabhängig vom Aufenthaltsort von Viktor Janukowitsch (er befand sich in der Ukraine), wurde seine Residenz, das Verwaltungsgebäude des Präsidenten, das Regierungsgebäude angegriffen, zudem wurden mehrere Gebäude und Menschen auf dem Maidan in der Anfangsperiode verbrannt. Doch das auf diese Weise zertretene Abkommen, das von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens beglaubigt wurde (übrigens befindet sich Radoslaw Sikorski jetzt hier im Saal, der vielleicht seine Geschichte schildern kann), sah in seinem ersten Punkt die Schaffung einer Regierung der nationalen Einheit vor. Das sind die Schlüsselworte. Das Ziel der nationalen Einheit kann nicht allein vom Schicksal Viktor Janukowitschs abhängen. Sollte er verschwinden, könnte man die Macht also auf bewaffnete Weise ergreifen und die nationale Einheit ignorieren? Doch Sie werden dieser Logik nicht zustimmen und das wir richtig liegen, weil es unzulässig ist. Dazu ist es gekommen statt der Schaffung einer Regierung der nationalen Einheit, die zum September eine neue Verfassung hätte vorbereiten sollen, auf deren Grundlage allgemeine Wahlen hätten stattfinden sollen. So sieht die Reihenfolge aus. Doch der Ausgangspunkt ist die Nationale Einheit. Darauf sollte sich die Verfassung unter Berücksichtigung der Positionen im ganzen Land stützen.

Stattdessen, als das oben erwähnte Abkommen in Vergessenheit geriet, ging Arseni Jazenjuk auf den Maidan-Platz und kündigte die Schaffung einer „Regierung der Sieger“ an. Danach wurden die Gebiete der Ukraine, die darüber empört waren, zu Aktionen griffen und die Ergebnisse des Staatsstreichs nicht akzeptieren wollten, einfach unterdrückt. Zunächst wurden die Anführer festgenommen, die gegen den Staatsstreich waren, danach wurde zur Gewalt gegriffen. Wer hat wen angegriffen? Waren es Donezk und Lugansk, die Kiew stürmten? Keineswegs. In den Südosten wurde eine Truppengruppierung geschickt, mit der versucht wurde, die Macht gewaltsam zu übernehmen.

Die damaligen Ereignisse in der Ukraine wurden auf der Krim beobachtet. In der früheren Etappe der Krise gab es einen Versuch des Rechten Sektors, sich durchzuschlagen und die Verwaltungsgebäude zu ergreifen. Gott sei Dank gibt es dort eine Landeenge, die Abteilungen der Volkswehr standen da und ließen sie nicht rein. Auf der Krim gab es ein Unabhängigkeitsreferendum, danach wurde sie an Russland angegliedert. In Kosovo gab es gar kein Referendum, obwohl US-Präsident Barack Obama vor kurzem mitteilte, dass der Kosovo ein Vorbild sei, weil die Menschen dort bei einem Referendum abgestimmt hätten. Dort gab es kein Referendum. Die Wiedervereinigung Deutschlands vollzog sich ohne Referendum, und wir haben das aktiv unterstützt.

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, wenn Sie sich daran erinnern, trat die Sowjetunion gegen die Teilung Deutschlands ein. Wenn man über Methoden spricht, die statt eines direkten Dialogs genutzt werden, besteht das Problem darin, dass der jetzige Präsident der Ukraine nicht mehr das Monopol auf die Gewaltanwendung hat. In der Ukraine wurden private Bataillone geschaffen, die besser als die reguläre Armee bezahlt werden. Zu diesen Bataillonen (darunter „Asow“, das ich bereits nannte) wechseln Menschen aus der regulären Armee.

Unter deren Führungskräfte gibt es offensichtlich Ultranationalisten. Wir unterhalten uns mit Ihnen seit langem, Herr Brock. Sie kamen sogar nach Moskau. Deswegen ist meine Antwort sehr einfach. Wenn Sie wollen, empörende Reden zu halten, die Ihre Position in der Politik, im EU-Parlament stärken, ist das eine Sache, wenn Sie jedoch mit uns sprechen wollen, setzen wir uns hin und gehen alle Helsinki-Prinzipien noch einmal durch und sehen, warum Sie bei einigen Fällen nicht denken, dass sie verletzt wurden, und bei anderen Fällen denken, dass sie verletzt wurden.

Übrigens, die in Nürnberg ansässige ukrainische Ratingagentur GFK Ukraine hat vor kurzem eine Umfrage auf der Krim durchgeführt. 90 Prozent sagten, dass sie die Angliederung der Krim an Russland unterstützen. Dagegen sind nur zwei Prozent. Weitere drei Prozent sagten, dass sie noch nicht ganz verstehen, was vor sich geht. Das sind statistische Angaben, das sind Menschen. Ein Kollege sagte, dass das Hauptprinzip in der EU der Respekt gegenüber die Selbstbestimmung sei. Sie sprachen jedoch nur über die Länder und in diesem Fall kam es zur Selbstbestimmung eines Volkes, und das geschah auf Grundlage einer jahrhundertelangen Geschichte. Wir können das alles besprechen, wenn Sie tatsächlich unsere Position und das, woran wir uns orientieren, verstehen wollen. Der Präsident Russlands, Wladimir Putin, hat mehrmals darüber gesprochen. Man kann natürlich darüber lachen. Dann wird das jemandem einfach Spaß machen. Lachen, wie man sagt, verlängert auch das Leben!


Quelle:
http://russische-botschaft.de/de/2015/02/09/vortrag-des-russischen-ausenministers-auf-der-51-munchener-sicherheitskonferenz-text-englisch-video-deutsch/



Stichwörter: , , , ,

Keine Kommentare zum Artikel "Der russische Außenminister Sergei Lawrow zum 'Kollaps der globalen Entwicklung': "Wichtig ist, dass alle den richtigen Risikoumfang begreifen.""

(optionales Feld)
(optionales Feld)
Um automatisiertem Kommentarspam vorzubeugen, beantworten Sie bitte die obige Frage.

Auf dieser Seite werden die Kommentare moderiert.
Das bedeutet, dass die Kommentare erst dann veröffentlicht werden, wenn sie freigeschaltet wurden.

Persönliche Informationen speichern?
Hinweis: Alle HTML-Tags außer <b> und <i> werden aus Deinem Kommentar entfernt. URLs oder Mailadressen werden automatisch umgewandelt.